Unberechenbar: Das Leben ist mehr als eine Gleichung Rezension

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Unberechenbar: Das Leben ist mehr als eine Gleichung - Harald Lesch

Rezension:


„Es gibt kein perfektes System zwischen Menschen. Menschen als sich verändernde Lebewesen unterliegen ständig Veränderungen, nicht nur in ihrem Habitus, sondern in der Form, wie sie mit sich und den anderen umgehen.“

Die beiden Autoren kritisieren recht deutlich Entwicklungen und Ist-Zustände wie Turbokapitalismus, Ökonomisierung unserer Welt oder auch die mit der Schneller-Besser-Weiter-Denke einhergehende Reduktion des Menschen auf sein Funktionieren. Sie werfen einen Blick auf unser heutiges Just in Time Handeln, das sie Streckengeschäftsmentalität nennen, und hinterfragen unseren ausufernden Technikwahn. Sie zeigen zudem Grenzen auf, demonstrieren anschaulich, warum es nicht gelingen kann, menschliches Zusammenleben rein mit mathematischen Gleichungen berechnen zu wollen, und erläutern, welches Risiko es in sich birgt, wenn physikalische Gesetze zu Handlungsmaximen erhoben werden und Berechenbarkeit über alles gestellt wird, denn genau das sind die Paradigmen, die unser heutiges Leben mehr prägen, als uns oft bewusst ist. Dies tun die beiden Wissenschaftler mit anschaulichen Beispielen, mit solchen, die es auch dem Laien wie Schuppen von den Augen fallen lässt, an was unsere Gesellschaft krankt.

Kritisieren ist leicht, auch wenn es sich Harald Lesch und Thomas Schwartz alles andere als leicht machen, denn hier wird wissenschaftlich unterfüttert und ausgiebig begründet, aber damit begnügen sich die beiden auch gar nicht. Denn auch wenn manche Theorien und Aussagen vielleicht nur provozieren wollen, auch die beiden nicht auf alles eine Antwort haben, denn das Leben ist nun einmal nicht bis ins Letzte berechenbar, zeigen sie Lösungswege auf und machen Vorschläge, wie man zu einer Gesellschaft gelangen könnte, in der es sich doch gerne leben lassen würde, vor allem auch um besser gerüstet zu sein, wenn Krisen kommen. Die Entdeckung der Langsamkeit, Traditionen pflegen, kleine Dörfer in der Gesellschaft bilden, Global Neighborhood, und auch Fehler zulassen, sind nur einige Schlagworte dazu, über die die beiden Autoren sich ausgiebig Gedanken gemacht haben.

„Der geforderte Gartencharakter verlangt eine Situierung des Betriebs im Grünen, jedenfalls im Freien. Das Idealbild des Biergartens ermöglicht es, unter großen Baäumen im Schatten zu sitzen. Es kann also nicht jeder machen, was er will, und zumindest die Getränke müssen gekauft werden. Ob der Besucher aber dazu Obazden isst oder Leberkäs, ob Köfte oder Hummus, das ist wurscht. Die Biergartengesellschaft, wie wir sie skizzieren möchten, zeichnet sich im Vergleich zur Karussellgesellschaft noch durch etwas anderes aus: Sie ist flexibel.“ Richtig gut gefällt mir, dass hier zwei Wissenschaftler als Autoren am Werke sind, die sich nicht über ihren beruflichen Erfolg definieren, und damit auch nicht jegliche Bodenhaftung verloren haben, sondern man beim Lesen auch als Laie, der sich noch nie darüber Gedanken gemacht hat, verstehen und das Gefühl haben kann, der Bekannte, der Nachbar plaudere mit einem und man eben auch versteht was gemeint ist.

Ganz oft haben mir die Autoren aus der Seele gesprochen, sehe ich doch ganz genauso, dass z.B. Digitalisierung nicht verdammt werden darf, dass Aufholbedarf besteht, aber eben auch ganz besonders in der Schule gelten muss, dass Durchdigitalisierung ein großer Fehler wäre. Und wer träumt insgeheim nicht von, Doch diese Zugewandtheit ist ein Interesse im Sinne des lateinischen inter-esse, eines Dabei- und Dazwischen-Seins, eines Anteilnehmens an der Persönlichkeit und dem Leben des anderen.“, „In dieser Atmosphäre entstehen Nähe und ein Interesse am anderen, das über Titel oder berufliche Leistungen und Erfolge hinausreicht.“ Viele Ideen der beiden haben mir ausgesprochen gut gefallen, „Ein Schulfach »Langsamkeit«, mit ganz unterschiedlichen Facetten und Dimensionen– das wäre ein Coup d’État an der alles regierenden Schnelllebigkeit und Rastlosigkeit unserer Zeit. Solch ein Fach zu konzipieren und in den Schulalltag zu integrieren, altersgerecht und entwicklungsgerecht, wäre ebenfalls eine Revolution– mindestens!“ könnte ich mir richtig gut vorstellen und auch Rituale, die man sich im Alltag als Nischen für Quality Time für sich alleine oder auch gemeinsam mit anderen einrichten sollte, sind eine Idee, die ich unbedingt beherzigen werde, sehe ich mich doch auch viel zu oft in dem Modus, nicht rasten zu dürfen und so toll wäre es doch wenn dieses Rezept aufgehen und gelten würde, „Haben wir sie gefunden, dann geben sie uns das Gefühl, dass wir eben nicht nur durch unser Leben surfen müssen, sondern auch einmal langsam auf dem Rücken schwimmen dürfen. Oder auch einfach nur vor uns hintreiben.“ Lobenswert finde ich auch, dass darauf aufmerksam gemacht wird, dass Schnelllebigkeit und Informationsflut dazu führt, dass gilt „Dadurch wird auch die Neigung größer, nur die Affirmation zu wählen. Womit gemeint ist, dass man genau die Informationen öfter auswählt, die man zu verstehen glaubt, weil sie Bekanntes und Anerkanntes wiedergeben und weil sie den eigenen Intuitionen entsprechen.“, denn wie wichtig ist es gerade heute, dass möglichst viele „Innehalten ist aber nicht nur etwas für die Seele, Innehalten verhilft auch zur Reflexion und ermöglicht Auswahl, Innehalten hilft uns zu erkennen, ob und wo es wirklich brennt. Es feit davor, sich ständig Furcht einflößen zu lassen und nur noch emotional zu reagieren, statt rational zu bleiben. Innehalten bewahrt uns davor, nach Shitstorms zu dürsten und sie selber zu inszenieren. Innehalten bedeutet, Distanz einzunehmen, sowohl zu den Meinungen anderer als auch zu den eigenen, auch zu den eigenen Regungen. Wenn alles in Echtzeit geschehen muss, ist das nicht drin.“

„Kirchgang und Sonntagsspaziergang. Nicht Kirchensprint und Sonntagsrennen,“ oder auch „Hamsterkäufe als Ausdruck von Angst und Egoismus, das Toilettenpapier als Sinnbild der Krise. Wer sich das Bad mit Toilettenpapier vollknallt und sich auch noch darüber freut, der Oma oder der alleinerziehenden Mutter die letzte Packung weggeschnappt zu haben, der hat von dem richtigen und wichtigen Anlegen eines Vorrats nichts kapiert. Wer nur die Gleichung Vorrat = Vorteil kennt– womit natürlich der eigene Vorteil gemeint ist–, der vergeht sich am gemeinsamen Vorrat, der stiehlt gewissermaßen aus der gesellschaftlichen Vorratskammer.“, sind Formulierungen, die man hier unter vielen anderen pointierten findet. Nicht selten durfte ich mit einem Grinsen im Gesicht lesen. Ab und an erfährt man in Abschnitten, wer von den beiden Autoren im Moment gerade berichtet und schildert, an anderen Stellen, hätte ich nicht gefragt werden dürfen. Beide formulieren pointiert, kurzweilig, leicht verständlich und äußerst unterhaltsam.

„Mehr als hundert Prozent geht nicht. Das ist die Grenze. Doch immer wieder drängt uns eine Sucht oder Versuchung dazu, diese Grenze nicht zu akzeptieren. Jeder von uns, aber auch unsere Gesellschaft als Ganzes giert nach der Grenzüberschreitung, setzt alles daran, Grenzen neu zu definieren und sie neu zu setzen. Hundert Prozent sind kein Volltreffer, das ist etwas für Schluffis und Faulenzer.“ Dass dies nicht mehr gelten mag und wieder ein paar Prozente mehr der Energie auf Dinge wie, „Wer sich keine inneren, wer sich keine spirituellen Vorräte anlegt, kann in einer Krise schnell leer und hohl dastehen. Solche inneren Ressourcen sind Zuneigung, Aufmerksamkeit, Respekt, Liebe und viele andere mehr. Wir können sie auch Werte nennen, und sie müssen in unsere menschlichen Beziehungen und letztlich auch in unsere Seelen eingelagert werden.“, verwendet werden, wäre mehr als wünschenswert.


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